Roland Regner

Texts

Roland Regner – Es gibt ein Leben nach dem Tod der Bilder

Text von Dr. Emmanuel Mir

Kunstwissenschaftler, Kurator und Autor. Düsseldorf.

Alle Bilder werden verschwinden.

(…)

reale oder imaginäre Bilder, die einen bis in den Schlaf verfolgen
Momentaufnahmen, beschienen von einem Licht, das allein ihnen gehört


In ihrer autobiografischen Schrift „Die Jahre“ verhandelt Annie Ernaux die eigene kleine sowie die große nationale Geschichte und stützt sich dabei auf vergegenwärtigte Lieder, Filme, Ereignisse – und auf private Fotografien. Letztere rufen nicht nur die Erinnerung ihrer Aufnahmezeit auf, sondern, in einer interessanten Gedächtnisschleife, auch die ihrer ersten Rezeption. So schreibt Ernaux, wie sie im Kindesalter ein Porträt von sich als Baby entdeckte, worin sie sich nicht wiedererkannte und das sie kalt und leicht irritiert ließ. Das Kind Annie stellt keinerlei Verbindung mit dem Bild des Babys Annie her,
dieser Kreatur aus einer stummen und unerreichbaren Zeit. Fünfzig Jahre später betrachtet die Autorin das gleiche Klischee und erinnert sich an das damalige Scheitern ihrer Erinnerung. Das Bild erzählt ihr heute, wie es damals schwieg.

Immer wieder reflektiert Ernaux das Spannungsverhältnis zwischen Bild und Erfahrung bzw. Bild und Erinnerung der Erfahrung. Als Schriftstellerin weiß sie, dass die Sprache die Welt in Worte fasst; als alternde, rückblickende Frau merkt sie, dass die Fotografie die Welt in Bilder fasst. Die Welt, wie sie ist und wie sie war, erhält ihre Substanz erst durch die Worte und die Bilder, die wir uns von ihr machen. Sie verwandeln die unstrukturierte Wirrnis einer Existenz in eine konsistente Biografie. Diese bleibt zwar eine Erzählung, aber Worte und Bilder verleihen ihr einen Körper, umfassen sie in beschreibbaren Räumen und verankern sie in einer eindeutigen Zeitlichkeit. Allerdings sind die Worte und die Bilder – genau wie unsere Wahrnehmung – anfällig für unbeabsichtigte Missdeutungen und tendenziöse Interpretationen, für Fehler beim Sender und beim Empfänger. Die Distanz zwischen der Wirklichkeit und ihren Bildern wird oft unterschätzt, Signifikanten und Signifikate werden selten sauber getrennt. Sich die Tragweite dieser Evidenz bewusst zu machen ist die Voraussetzung für eine Ergründung des Werkes von Roland Regner.

Roland Regner baut seine Arbeit auf ästhetisch-semiotischen Prämissen auf, worauf hier kaum zurückgekommen wird. Seit Alfred Korzybski („Science and Sanity“, 1933) und vor ihm Ferdinand de Saussure („Cours de linguistique générale“, 1916) wissen wir nämlich, dass die Karte nicht das Gebiet ist und dass die Verwechslung der Erfahrung mit ihren sprachlichen oder visuellen Symbolen einen grundlegenden und weit verbreiteten Denkfehler darstellt. Ceci n’est pas une pipe. Seit Susan Sontag („On Photography“, 1973) und Vilém Flusser („Für eine Philosophie der Fotografie“, 1983) wissen wir zudem um den konstruierten Charakter der Fotografie und ihr loses, ja trügerisches Verhältnis zur sogenannten Realität. Letztere wird durch Fotos registriert, gemessen, gespeichert, bearbeitet, manipuliert, archiviert und, möglicherweise, verstanden. Regner teilt jedoch diese ikonophile Euphorie nicht und arbeitet seit über fünfzehn Jahren an einer Art Entzauberung der Fotografie. Er stellt die angebliche Nähe des Mediums zur Wirklichkeit infrage und enttäuscht systematischdie daran geschürten Erwartungen. Er zitiert die Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten unterschiedlicher fotografischer Anwendungen (Kommunikation, Kommerz, Technik, privat) und eignet sich deren Codes und Modi an, um auf ihre inhärenten Mechanismen zu fokussieren.

Dieser medienspezifische Impetus bringt Regners Praxis in die Nähe der selbstreflexiven Kunstfotografie, wie sie beispielsweise von Thomas Ruff, Viktoria Binschtok, Christopher Williams oder Jesse McLean vertreten wird. Diese Verwandtschaft und Regners modus operandi wurden bereits an anderer Stelle unterstrichen; vorliegender Text konzentriert sich auf eine wenig sichtbare Dimension des Korpus – nämlich die existentielle. Jenseits der intellektuellen Befriedigung, die jeder Metadiskurs mit sich bringt, stellt sich nämlich die Frage der Überwindung – im Sinne einer Fortentwicklung – der konzeptuellen Fotografie. Was kommt nach den iterativen Loops von Kritik und Selbstkritik, die das Feld der Kunstfotografie seit nun 40 Jahren mitbestimmen? Was haben wir aus dem aufklärerischen Schub gelernt, den die oben zitierten Künstlerinnen und Künstler eingeleitet haben? Was folgt auf die Dekonstruktion? Meine These lautet: Auf die Dekonstruktion des Mediums folgt die Rekonstruktion des Subjektes.

Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit aller visuellen Informationen beherrscht das Individuum das Regime der Bilder nur bedingt. Die Demokratisierung der Fotografie, vor allem in ihrer aktuellen digitalen Ausprägung, hat zu einer exponentiellen Produktion, Zirkulation und Konsumptionvon Aufnahmen jeglicher Art und Qualität geführt. In diesem nicht abgeschlossenen Prozess gehen Entmaterialisierung und Entwertung Hand in Hand – was sagt uns schon die geschätzte Zahl von zwei Milliarden geschossener Fotos pro Tag? Wir machen alle mit, ohne die rasche technologische Entwicklung verinnerlicht zu haben. Letztendlich können wir der Entwicklung nicht folgen, und das hat Folgen: In der Welt der ständigen Repräsentationen gerät das überexponierte Subjekt ins Wanken. Wie das Mädchen Annie erkennt sich das überexponierte Subjekt im eigenen Bild nicht wieder. Es verliert den Überblick und verstrickt sich in die selbstinszenierten Lügen der sozialen Medien, unterscheidet nicht mehr zwischen Realität, Abbild der Realität und Manipulation des Abbilds der Realität. Spätestens seit Instagram haben Identitäten aufgehört, sich glaubhaft in Bildern zu manifestieren.

Die Diagnose ist nicht neu, die begleitenden Kommentare aus dem Kunstfeld sind es ebenso wenig. Roland Regner setzt die Kommentare fort und fügt seine Bildskepsis zur vorhandenen Bildskepsis hinzu, geht aber ein Stück weiter. In seiner Untersuchung des Versagens der Fotografie hat er eine Tür freigelegt, die bisher unbemerkt blieb. Diese Tür öffnet sich zum Menschen hin – nicht zum Bild des Menschen, das ist schon der ganze Unterschied. Und wohlgemerkt: Es ist eine Ausgangstür, die die Schwelle zwischen dem Subjekt und seiner symbolischen Darstellung markiert. Regner operiert innerhalb des Raums Fotografie, bewegt sich aber zu einem Außerhalb hin. Über die Feststellung der Beschränktheit seines Mediums hinaus versucht er, die menschliche Figur aus dem ikonografischen Malstrom, in den sie geraten ist, zu retten. Er nutzt das Bild, um einen Ausgang aus dem Bild zu finden. Wie einst Francis Bacon für die Malerei oder Alberto Giacometti für die Plastik ringt Regner mit dem Bild der Menschheit. Aber anders als bei Giacometti und Bacon ist Regners künstlerisches Medium nicht nur Ausdruck einer Entfremdung, sondern deren Ursache. Die Diagnose ist klar, die Heilung vom Bild wird im Bilde selbst versucht. Similia similibus curentur.

Ein Beispiel für den Befund einer Unzulänglichkeit der Fotografie liefert die Reihe „Catwalk 91“. Im Hinblick auf ihre Gattungsbeschreibung ist sie außergewöhnlich: Strenggenommen handelt es sich um Found Footage, wobei das gefundene Material vom Künstler selbst stammt. 2009 stieß Roland Regner zufällig auf Bilder, die er 1991 realisiert und zwischenzeitlich vollständig vergessen hatte. Im Auftrag seines Vaters hatte der damals Dreizehnjährige die kleine Modenschau fotografiert, die alljährlich vor dem elterlichen Sportgeschäft stattfand und als Werbeveranstaltung galt. Sogar an dieses Ereignis kann sich Regner nicht mehr erinnern. Kurz nach dem überraschenden „Fund“ entschied er sich, das Material zu bearbeiten, und legte Transparentfolien mit Bildfehlern über die Fotos, um das Ergebnis anschließend zu scannen. Diese zusätzliche Schichtung schafft einen trüben Schleier aus Schmutzflecken auf der Oberfläche des Bildträgers bzw. der Folie und stellt damit eine visuelle Distanz her, die einem Verunklären des Motivs gleichkommt. „Catwalk 91“ bedient sich also der rhetorischen Figur des Oxymorons: Das eigene Material wird „gefunden“ und sich wieder angeeignet – ein Widerspruch, der letztlich keiner ist.

Was als folkloristische Anekdote daherkommt, offenbart meines Erachtens ein wesentliches Merkmal der Kunst von Roland Regner, nämlich den starken Bezug zur Biografiearbeit, der sich hinter der nüchtern-unpersönlichen Fassade einer metadiskursiven Praxis verbirgt. Ohne sie mit laienpsychologischen Projektionen zu überfrachten, sind die Umstände der Entstehung dieses Materials aufschlussreich und besonders porös für freudsche Deutungsmuster: Ein zum Manne heranwachsender Teenager, der seine künstlerische Berufung noch nicht entdeckt hat, realisiert im Auftrag des Vaters eine Reihe von Aufnahmen, die er danach – obwohl es sich um seine allererste fotografische Produktion von Belang handelt – komplett vergisst. Achtzehn Jahre (also eine knappe Generation) später, lange nach dem Sprung aus dem heimatlichen Provinznest, stolpert der erwachsene und als professioneller Fotokünstler gestandene Mann über etwas, das als möglicher Auslöser seiner beruflichen Tätigkeit gedeutet werden kann.

Weil das Lesen und Verstehen von konzeptueller Fotografie nur unter Berücksichtigung ihres Entstehungskontextes erfolgt, sehe ich diese begleitende Erzählung als integralen Bestandteil von „Catwalk 91“. Mehr als die formale Distanzierung durch eine Überlagerung und Reproduzierung des Motivs scheint die Funktion der Fotografie als Träger und Erzeuger von Erinnerung Regners Interesse geweckt zu haben. Das zentrale Objekt der Bildserie wäre demnach nicht eine verfremdete Modenschau, sondern eine vielsagende Gedächtnislücke des Autors, die auf eine populäre Funktion der Fotografie hinweist – die Fotografie als „Schutz gegen die Zeit“, als Minderung der Angst, „die Vergänglichkeit und Zeitlichkeit der Existenz in uns wecken, indem sie entweder einen magischen Ersatz für das bietet, was die Zeit zerstört hat, oder indem sie der Schwäche unseres Gedächtnisses abhilft und uns erlaubt, die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen heraufzubeschwören, kurz, indem sie uns glauben macht, uns der Zeit als zerstörerischer Macht entwinden zu können“. Allerdings stellen wir in „Catwalk 91“ ein Scheitern dieser Funktion fest. Die Schwäche des Gedächtnisses wird konstatiert und ihr wird kein bisschen abgeholfen, das bloße „Wiedersehen“ der Bilder reaktiviert nichts im Subjekt. Vielleicht blickte Regner 2009 genauso kalt und leicht irritiert auf diese nichtssagenden Aufnahmen wie das Mädchen Annie auf ihr Babyfoto.

Auf die Fotografie ist also kein Verlass, scheint Roland Regner zu behaupten. Als Stütze des Gedächtnisses scheitert sie zu oft, und dieses Scheitern wirft uns auf uns zurück. Denn wenn der „magische Ersatz“ versagt, bleibt nur noch das blanke Subjekt da. Die seit 2012 geführte Serie „Arché“ nährt diese These. Es handelt sich um ein langfristiges, fotografisch-performatives Projekt, das aus der radikalen Transformation von vorhandenem Fotomaterial besteht. Die Brisanz des Vorgangs liegt einerseits in der Natur der Transformation – die Bilder werden manipuliert, bis ihre Motive unwiederbringlich verlorengehen – und andererseits in der Natur des Materials – es sind Originalaufnahmen des Künstlers in allen Lebensaltern, also private Fotos von hoher autobiografischer Bedeutung. Regner vernichtet sie, indem er die oberflächliche Informationsschicht der Dias und Negative mit gezüchteten Bakterien oder die Fotoabzüge mit Natronlauge präpariert, sodass die (ehemaligen) Motive unlesbar werden. Die Daten seiner Digitalfotografien werden wiederum von einem eigens programmierten Virus beschädigt, das die Motive zu einem Pixelbrei macht. Was nach dem gesteuerten Zerfall der Bilder übrig bleibt, sind andere Bilder, kaleidoskopartige Kompositionen von kristalliner Schönheit, zerfetzte Farbschleier mit changierenden Texturen, Staubansammlungen in Schwarzweiß und aufgelöste „Restdaten“ in weichen Pastelltönen. Es ist keine Zerstörung, sondern eine Verwandlung.

Die Vernichtung des Bildarchivs seines Selbst löst meistens Befremden und Unverständnis bei Dritten aus. Man erschrickt. Die Geste gleicht einem symbolischen Selbstmord oder zumindest einer mutwilligen Amnesie ohne Aussicht auf Heilung. Die Rezeption dieser Geste sieht nur ihre Gewalt, verkrampft sich auf ihre endgültige Negativität. Dabei verkennt sie das Potenzial an Befreiung, das jede Zerstörung mit sich bringt. Das Motiv wird nämlich nicht nur zersetzt, sondern auch in Bewegung gesetzt. Erster Punkt: Wie die grauen Gemälde von Gerhard Richter oder das leere Buch von Claudia Märzendorfer beinhaltet jede entstellte Fotografie von Roland Regner die Summe aller weiteren möglichen Bilder. Es ist ein unendliches Reservoir. Regners Praxis hebt sich also deutlich von früheren Beispielen künstlerischer Zerstörungsfantasien ab, wie sie in den Werken von John Baldessari, Gustav Metzger, Jean Tinguely oder Michael Landy erscheinen. Die künstlerische Nähe wäre eher bei Arnulf Rainer zu suchen: Der von Regner initiierte Prozess ist weder Anti-Kunst noch Anti-Objekt; er ist eine Transformation „ohne Rücksicht auf Erhaltung“, die einem „Verbrennungsprozess“ ähnelt.

Zweiter Punkt: Wenn das Medium nichts mehr zu sagen hat, kehrt das organische Subjekt zurück. Losgelöst von der Last der Bilder und ihrer trügerischen Evidenz, kann sich das Subjekt nur noch auf seinen Körper, auf seine Geschichte und auf sein Gedächtnis zurückbesinnen. Es behauptet sich gegen seine Repräsentationen. Die Wahrheitsfragmente einer Existenz werden nicht mehr in einem endgültigen Dokument gespeichert, das weder einen Anspruch auf Faktizität noch den Wunsch nach Lebendigkeit erfüllen kann. Das abwesende Bild steht nicht mehr zwischen Erfahrung und Erinnerung der Erfahrung, es kann das Authentische des Erlebten nicht mehr veruntreuen. Keine Gefahr einer konstruierten Erinnerung mehr; dafür die Gefahr, auf ganze biografische Abschnitte zu verzichten, weil es kein Bild mehr davon gibt. Das Kind Annie, das bezugslos vor dem Bild des Babys Annie steht, wird gerade mit diesem Mangel konfrontiert. Die ältere Frau Annie reaktiviert wiederum ihr organisches Gedächtnis – das in ihren Körper eingeschriebene Gedächtnis – und erkennt dabei die unzureichenden Fähigkeiten des fotografischen Bildes.

Regners Schritt ist also radikal, aber nicht im Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sondern im Umgang mit der Vormachtstellung der Bilder und ihrem ausgedehnten Gebrauch in den Gesellschaften des globalen Nordens. Seine Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Bildes, Realität(en) darzustellen bzw. zu erzeugen, drückt sich letztendlich auch in den Titeln der einzelnen Arbeiten der „Arché" Serie aus. Neben einem generischen Code („DN-0206", „DF-0052") enthalten die Titel eine kurze Begriffssammlung („Person Osterkorb Wiese Pflanzen 1987", „Person Haus Statue Himmel Tor 2012"), die das verlorengegangene Motiv evoziert. Der Titel als traditionelle Vorinformation und Deutungsstütze des Werkes funktioniert wie eine Word Cloud, der visuelle Informationsgehalt der Fotografie / des Dias oder Negativs / des Fotoabzugs / des digitalen Fotos wird vollständig entleert und durch eine sprachliche Beschreibung ersetzt – das ist Ekphrasis in ihrer minimalsten Form. Diese wiederum brennt sich im Hirn des Rezipienten ein, der sich selbst ein Bild macht, also die angegebenen Stichworte in eine innere, wie auch immer geartete Vorstellung umwandelt. Vom passiven Konsumenten einer Bildinformation wird er zum Produzenten bzw. Interpreten einer reduzierten Partitur und nähert sich einem nicht mehr vorhandenen Motiv mit verbalen Mitteln an.

Die These einer Rehabilitierung des Menschlichen im Fotografischen wird von einer zweiten Werkreihe bestätigt, „Cremegesicht“ von 2014. Hier hat Regner die auf privaten Porträtbildern abgebildeten Gesichter mit einer dicken Schicht Kosmetikcreme beschmiert, ein vereinfachtes Antlitz nach dem Schema „Punkt, Punkt, Komma, Strich“ in diese Masse geformt und das Ergebnis refotografiert. Zwar sind einzelne Körperteile sowie der Hintergrund zu erkennen, aber die wichtigste Bildinformation ist hinter dem pastosen Belag verschwunden. In Abwesenheit physiognomischer Hinweise lässt sich keine Aussage zum Charakter oder zur Geschichte der Personen treffen. Mit diesen weißen Blobs und ihren fratzenartigen Smiley-Ausdrücken wird also die Spezifität des Porträts zitiert und zugleich negiert, eine ganze Gattung schießt sich ins Bein. Dies mag zunächst für eine Abkehr vom Menschlichen sprechen, ja vielleicht sogar für einen Angriff gegen das Individuelle, aber eine solche Deutung würde vor allem der Naivität einer Verwechslung von Signifikat und Signifikant erliegen. Trotz der Distanzierung der abgebildeten Wesen und ihrer respektlosen Verstellung möchte ich an der These einer Wiedereinführung des Menschen festhalten.

Denn auch hier erscheint mir der Bezug zum Körperlichen, vor allem in seiner materiell-biologischen Wahrheit, zu groß, um unter den Teppich gekehrt zu werden. Mehr als ein Verbergen und Verunreinigen der Gesichter nehme ich hier das Haptische und Performative wahr. Das Produktionsverfahren erinnert nämlich an „Arché“ und an „Catwalk 91“: Die Oberflächenbehandlung erfolgt weder im Labor noch auf dem Bildschirm, sondern unmittelbar auf dem Bildträger, analog und dinghaft. Und zwar mit den bloßen Fingern. Im Zusammenhang mit der Oberflächendominanz der Fotografie erscheint diese Handlung kindisch und etwas deplatziert, aber vor allem bockig. Hier hat ein Mensch Hand angelegt, hier hat einer die Geste, das sinnliche Pressen und Formen von Materie auf einem toten Bild wiedereingeführt, hier hat sich einer auf das Fotopapier organisch eingeschrieben. Als ob Regner durch sein Nesteln und Knibbeln – er behandelt das Bild wie eine Haut – sich der Substanzlosigkeit des fotografischen Bildes entgegenstellen wollte.

So betrachtet kehrt sich die platte Aussage des Bildes um. Es geht nicht um ein Verschwinden von Identität, sondern um ihre Behauptung. Die Creme löscht zwar die wichtigste Information aus, fördert aber eine ganz andere Subjektivierung zutage: die des Autors. Die Bedeutung des Handwerklichen, Plastischen, Leiblichen – aller Komponenten, die in der Regel eine untergeordnete Rolle in der Fotografie spielen – wird in diesem Umgang des Fotografen mit seinem materiellen Material unterstrichen. Der Rezipient wird nicht mehr mit einer bloßen Information konfrontiert, sondern mit Spuren, mit den sichtbaren Überbleibseln einer physischen Präsenz – so reduziert und unförmig diese auch sind. „Cremegesicht“ ist ein Versuch der Reinkarnation; das Bild ist ein Zombie, der mit der Schöpfungskraft des Künstlers zum Leben erweckt wird. Der Blob heißt Pygmalion, der Golem besteht aus Nivea-Creme.

Roland Regner denkt und handelt immer vom Kern der Fotografie aus. Seine Dekonstruktion des Mediums kann von keiner anderen Stelle als von diesem selbstbezogenen und metareflexiven Standort aus vollzogen werden. Allerdings habe ich in diesem Text zu zeigen versucht, dass dies noch kein Zweck an und für sich ist. Der Dekonstruktion folgen Ansätze einer Rekonstruktion; die Kritik ist nur der notwendige Startpunkt eines anderen Vorhabens, das das Kommentieren überwindet, um in eine Positionierung zu münden. In der Ära der überbordenden und unreflektierten Bildproduktion und -rezeption beklagt Regner einerseits die allgemeine Entwertung des fotografischen Bildes, skizziert andererseits aber auch den einzigen konsequenten Ausweg aus der Situation: zurück zum Körper, zurück zum Leib, zurück zur Biografie, zurück zum biologischen Menschen. Das Plastische, das Sinnliche und das Erlebte werden zu neuen qualitativen Dimensionen des Bildes gemacht, das sich nicht mehr durch seinen Informationsgehalt alleine beschreiben lässt. Befreit von den Bildern, kann der Mensch in sich und auf sich schauen.

Das ist der ganze Widerspruch und die ganze Komplexität dieses künstlerischen Projektes: eine Praxis zu definieren, die vom Kern der Fotografie ausgeht und in diesem Kern selbst ein Außerhalb des Mediums zur Rettung der Fotografie sucht. Den naiven Glauben an die Fotografie zu töten, um sie mit einer neuen Kraft zu beleben. Dies erfolgt, wie wir gesehen haben, durch kleine und zurückhaltende Gesten oder durch radikale, endgültige Manipulierungen. Dies erfolgt vor allem durch eine Abkehr der Fixierung auf das Motiv und seine narrativen Potenziale, um das Performative vor, während und nach dem fotografischen Akt zu unterstreichen. Dies erfolgt schließlich durch die Akzeptanz der debilen Verfassung des fotografischen Bildes, das nur noch als Mittler fungiert, dessen Schwächen und Unzulänglichkeiten allen bewusst sind. Die reale Erfahrung, dieses einmalige, nichtreproduzierbare „Material“, dessen einzelne Bestandteile (die Erinnerungsfragmente) auf den unverrückbaren Zeit- und Raumachsen der menschlichen Existenz festgeschrieben werden, können nicht zufriedenstellend in Bildern gespeichert werden. Wir müssen akzeptieren, dass wir dieses Medium mit Erwartungen und Sehnsüchten überladen haben. Die Fotos, anhand deren Annie Ernaux ihre persönliche Geschichte zu rekonstruieren versucht, helfen kaum, die Dichte der eigenen Vita zu bezeugen. Aber durch das Schreiben sublimiert Ernaux ein Scheitern in Erfolg: Das Erlebte des Baby-Seins ist unwiederbringlich verschwunden, aber die Kunst ermöglicht einen Umgang mit diesem Verlust. Und bringt die Autorin zu ihrem Körper und ihrer verinnerlichten Geschichte zurück.

Ein schwacher Trost ist immer besser als eine starke Illusion.

 

Alle Bilder werden verschwinden.

(…)

Sie alle werden mit einem Schlag erlöschen wie zuvor die Millionen Bilder im Kopf der Großeltern, gestorben vor einem halben Jahrhundert, wie die Bilder im Kopf der Eltern, die ebenfalls nicht mehr sind. Bilder, in denen man selbst als kleines Mädchen im Kreise anderer Menschen auftaucht, die gestorben sind, bevor man selbst geboren wurde (…). Und auch wir werden eines Tages in den Erinnerungen unserer Kinder im Kreise der Enkel stehen, im Kreise von Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.

Die kursiven Stellen in diesem Text sind entnommen aus: Annie Ernaux (2022): Die Jahre, Berlin




Roland Regner – Relations

Text von Dr. Emmanuel Mir

Kunstwissenschaftler, Kurator und Autor. Düsseldorf.

Roland Regners Auseinandersetzung mit Fotografie ist von einer medialen Selbstreflexivität gekennzeichnet, die von seltener Konsequenz ist. Selten, weil sein Zugriff auf die Funktionen und Wirkungen des fotografischen Bildes holistisch ist und damit alle konstituierenden Elemente und Momente des Mediums berücksichtigt. Regners Analyse geht nicht nur auf die Rahmenbedingungen und Kollateraleffekte der Produktion ein, sondern auch auf die (oft verborgenen) Mechanismen der Distribution und Rezeption. In früheren Werkreihen hinterfragt er die technische Beschaffenheit sowie die gesellschaftliche und psychologische Bedeutung von Fotografie. In Relations fokussiert er das sehr weite Feld der Rezeption und die vielfältigen Anwendungen von fotografischen Erzeugnissen.

Unterschiedliche Kontexte (Mode, Werbung und Marketing, Technik, Medizin, Didaktik etc.) und Gattungen der professionellen Fotopraxis (Stock-, Portrait- oder dokumentarische Fotografie, Packshots, Illustration usw.) werden in Relations herbeizitiert. Die Anwendungsgebiete der Fotografie als Instrument der wissenschaftlichen Erkenntnis, der visuellen Kommunikation, der Speicherung und Vermittlung von Information (und überhaupt der Konstruktion von Information), aber auch verschiedene Display-Arrangements und Lese- und Speichergeräte (Kindle, PhotoStar oder Porst) finden Eingang in diese Reihe. Dieser Reichtum an Bildtypen und Dispositivender Zurschaustellung lässt Relations heterogen erscheinen; die Verwandtschaft der Bilder untereinander ist eher konzeptueller als visueller Natur.

Wie ein Laborant, der Versuchsanordnungen mit einfachen Stoffen realisiert und daraus neue Kombinationen erstellt, setzt Regner diverse Objekte bzw. Motive zusammen (ein männlicher Torso und ein bunter, abstrakter Blob oder eine gelbe Schreibmaschine auf einer hölzernen Urne), um sie aufeinander reagieren zu lassen. Ob diese einfachen Bildelemente willkürlich oder nach einer bestimmten Logik gepaart werden, bleibt dem Außenstehenden unergründlich. Zudem wird die Wechselwirkung der Motive durch ihre Aufteilung als Diptychon, Triptychon oder Polyptychon noch gesteigert. Jede neue Bildeinheit erweitert das Feld der möglichen Interpretationen und führt zu einer kompletten Verunklärung der expressiven Intention des Künstlers. Auf der Suche nach einer übergeordneten Bedeutung des Wahrgenommenen und gelenkt durch den Titel der Serie (der, wie immer in Regners Werk, einen wichtigen Part der Arbeit darstellt), verbindet der Rezipient die Bildpartien und deren ikonografischen Komponenten miteinander und bemüht sich so um eine sinngebende Korrelation, die sich jedoch nie einstellt.

Mit Relations hat Regner eine Reihe von Seh- und Denkfallen errichtet, die visuellen Rätseln gleichen. Allein gelassen mit Motiven, die zugleich vertraut vorkommen, jedoch in ihrer Aussagekraft vollkommen hermetisch sind, bleibt dem Rezipienten nichts anderes übrig, als sein eigenes Handeln zu reflektieren – eine selbstreflexive Wendung, die an postmoderne Strategien erinnert. Anstatt auf Bilder zu schauen, um deren Sinnhaftigkeit zu entziffern, schaut er auf sein eigenes Schauen. Weil sie im Labyrinth der Verweise und Bezüge nicht mehr auffindbar sind, legen die ad absurdum addierten semantischen Schichten dieser Bilder die genuine Leistung des Betrachters frei. Das Lesen, Entziffern und Interpretieren von Bildinhalten wird zum Sujet der Serie gemacht. Wie entsteht Sinn im (fotografischen) Bild? Was geschieht eigentlich, wenn das Bild fertig ist und zirkuliert? Welchen Anteil hat der Urheber an der Deutung seines Werkes – und welchender Rezipient? Wie wichtig ist der Vermittlungskontext zum richtigen Einordnen einer Fotografie und reichen dafür ihre visuellen Mittel aus? Regner geht von der Analyse der beruflichen Realität des Fotografen aus und deckt mit Relations die gesellschaftlichen, kulturellen oder ideologischen Fundamente der aufgegriffenen Bilder auf. Er stellt Fragen an das Medium – und liefert keine Antwort.

 





Roland Regner – Arché

Text von Dr. Heiko Schmid
Kunst- und Medienwissenschaftler, Kurator und Autor. Zürich.

 

(English below)

Mit der Veröffentlichung des Buches „The pencil of nature“ durch William Henry Fox Talbot im späten 19. Jahrhundert kam es in der europäischen Kulturgeschichte zu einem Paradigmenwechsel. Das Wahrheitsmoment künstlerisch/bildnerischer Verfahren wurde zu dieser Zeit als aus der unmittelbaren Einflusssphäre des Künstlers abstrahierbar deklariert und erstmals einem technischen Verfahren zugewiesen. Die Technik, so suggerierte Talbot damals, sollte die künstlerische Vision von subjektiven Einschreibungen bereinigen und auf diese Weise tatsächlich objektive Abbildungen des „Wirklichen“ ermöglichen.

Dass die Art und Weise, wie ein Fotograf Sujets und Perspektiven arrangiert für die finalen Bildfindungen eine gravierende Relevanz besitzt, war natürlich auch schon im späten 19. Jahrhundert bekannt. Dieser Fakt wurde seinerzeit jedoch durch die Faszination am technisch avancierten Foto-Apparat in den Hintergrund gedrängt. Dieser wurde durch eine geradezu sture „Gläubigkeit“ an die Objektivität technischer Verfahren überlagert. Das bis heute für richtig erachtet wird, dass uns Fotografen, unterstützt durch Hightech Geräte und Verfahren, die wahren Gegebenheiten, Konflikte, Identitäten und Probleme der Gegenwart offenbaren können, ist mitunter auch aktuell noch auf Zuweisungen, wie jener Talbots, zurückzuführen.

Und die Wahrheitsfunktion des „Fotografischen“ ist selbst, trotz etwa der in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Wende hin zum Digitalen, nicht nur als eines der bestimmenden Themen anzusehen. Vielmehr ist in unserer Zeit selbst von einer Explosion technisch produzierter „Wahrheitsbegriffe“ zu sprechen. So wird unser Körper gerade in der Medizin permanent Screenings unterworfen und auch die Naturwissenschaften werden von technisch produzierten Bildern bestimmt. Wir leben inzwischen in einer Bildersphäre die permanent Behauptungen produziert, jedoch trotzdem selten in Frage gestellt wird.

An genau dieser Sollbruchstelle setzt der Künstler Roland Regner mit seinem Projekt Arché an. So transformiert der Künstler unter Rückgriff auf unterschiedliche „technische“ Strategien sein persönliches fotografisches Archiv. Er unterwirft all jene Röntgenbilder, Dias, Negative, digitale Fotografien und fotografische Abzüge, die ihn in vergangenen Lebenssituationen abbilden jeweils spezifischen, für die einzelnen Bildträger entwickelten, Verfahren. Der Künstler setzte beispielsweise seine Röntgenbilder einer andauernden und intensiven Rotlicht- und UV-Bestrahlung aus, ließ Dias und Negative von einem am Biologischen Institut der Universität Zürich entwickelten Bakterium befallen, Foto-Abzüge durch eine alkalische Lösung auflösen und die digitalen Fotografien von einem extra dafür programmierten Computervirusprogramm mittels chaotischer Algorithmen transformieren. Das Resultat all dieser Eingriffe ist, dass mit den Bildträgern vor allem auch die in den jeweiligen Speichermedien angelegten „Informationen“ transformiert werden, dass quasi die Informationsschicht gewandelt wird, das Trägermaterial jedoch in seiner Konsistenz belassen wird. Eben jene Ebene der visuellen Kodierung, die das Wahrheitsversprechen etwa von Fotografien auszeichnet, wird durch den Eingriff Regners als fragiler Film auf technischen Oberflächenstrukturen verständlich. Im Grunde fragt der Künstler mit seinem Arché Projekt nach dem, was das fotografische Bild jenseits jener klassischen Zuschreibungen überhaupt sein könnte. Er fragt, was bleibt, wenn man jene historisch konstruierte Zuweisung, dass Fotografien das Wirkliche in die Ebene des Medialen transferieren können, auflöst.

Die Antwort, die Regner in diesem Zusammenhang selbst mit einer von ihm selbst erarbeiteten Systematisierung nahelegt, ist, dass der Betrachter auf latente, erlernte oder konstruierte Kategorisierungen zurückgreifen muss, wenn er verstehen will, was sich ihm auf einem fotografischen Bild zeigt. Indem der Künstler den neu entstandenen Bildern einerseits chronologisch geordnete Seriennummern und andererseits zu jeder dieser Nummern maximal 6 Begriffe addiert, mit welchen er die wichtigsten (ehemaligen) Bildinhalte zu erfassen versucht, weist er auf latent immer vorhandene Codierungen hin. Das Verständnis von fotografischen Bildern, so legt Regner durch diese Zuweisungen nahe, war schon immer primär eine Rezeptionsleistung und hat wenig mit unverrückbaren Wahrheiten zu tun. Und genau diese Herangehensweise historisch gewachsene Paradoxien des Mediums Fotografie nicht nur zu kennzeichnen, sondern selbst erlebbar zu machen, rückt Roland Regners Arché Projekt in den Status einer relevanten Gegenwartsanalyse.






Roland Regner – Arché

Text by Dr. Heiko Schmid
Art and media scholar, curator and author. Zurich.


The publication of the book “The pencil of nature” by William Henry Fox Talbot in the late 19th century marked a paradigm shift in European cultural history. At that time, the truth element of artistic/image-making processes was declared able to be abstracted from the artist’s immediate realm of influence and was assigned to a technical process for the first time. Technology, Talbot suggested at the time, was meant to purge the artistic vision of subjective attributions and thus actually make objective images of the “real” possible.

The fact that how a photographer arranges subjects and perspectives has a serious relevance for the final image was, of course, already known in the late 19th century. At the time, however, this fact was sidelined by the fascination with the technically advanced photographic apparatus, the camera. This was superimposed by an almost stubborn “faith” in the objectivity of technical processes. Even today, it is still considered true that photographers, supported by high-tech equipment and processes, can reveal the true realities, conflicts, identities and problems of the present, is still partly traceable back to attributions such as Talbot’s.

And the function of truth of the “photographic” is itself, despite for example the shift towards the digital in recent decades, not just to be seen as one of the defining themes. On the contrary, our times have seen an explosion of technically produced “concepts of truth”. In medicine, for example, our bodies are constantly subjected to screenings, and the natural sciences are also determined by technically produced images. In the meantime, we live in a sphere of images that permanently produces assertions, yet is rarely questioned.

It is precisely this rupture point that the artist Roland Regner addresses with his project Arché. With recourse to various “technical” strategies, the artist transforms his personal photographic archive. He subjects all the X-ray images, slides, negatives, digital photographs and photographic prints that depict him in past life situations to specific procedures developed for the individual media. For example, the artist exposed his X-rays to continuous and intensive red light and UV radiation, had slides and negatives infected by a bacterium developed at the Biological Institute of the University of Zurich, had photographic prints dissolved by an alkaline solution and had the digital photographs transformed by a specially programmed computer virus programme using chaotic algorithms. The result of all these interventions is that the “information” stored in the respective storage media is transformed along with the photo substrates, that the information layer is transformed, so to speak, but the substrate is left intact. It is precisely this level of visual coding that characterises the promise of truth in photographs, for example, that becomes comprehensible through Regner's intervention as a fragile film on technical surface structures. With his Arché project, the artist essentially asks what the photographic image could actually be, beyond these conventional categorisations. He asks what is left when we dissolve the historically constructed assignation that photographs can transfer the real to the level of the medial.

The answer, which Regner himself suggests in this context with a systematisation he has devised, is that the viewer must refer back to latent, learned or constructed categorisations if they want to understand what is shown to them in a photographic image. By assigning chronologically ordered serial numbers to the newly created pictures on the one hand and adding a maximum of 6terms to each of these numbers, with which he tries to capture the most important (former) content of the picture, on the other hand, the artist points to codifications that are latently always present. Regner suggests that the understanding of photographic images has always been primarily a matter of how they are received and has little to do with unalterable truths. And it is precisely this approach of not just characterising the historically evolved paradoxes of the medium of photography, but making them tangible in themselves, that shifts Roland Regner's Arché project into the status of a relevant contemporary analysis.




Roland Regner – Russalka

Text von Dr. Heiko Schmid
Kunst- und Medienwissenschaftler, Kurator und Autor. Zürich.


(English below)

Es gehört zu den gravierenden Fragen in der Kunst, ob Fotografien Abwesendes zeigen oder die Gegenwart in ein bildliches Jenseits entfernen. Jedem, der schon einen Blick auf alte Kindheitsbilder geworfen hat, ist die Tragweite dieser Frage bekannt. Obwohl natürlich jeder Zeit bestätigt werden kann der Abgebildete zu sein, handelt es sich doch um einen anderen Menschen, der auf Bilddokumenten zu sehen ist. Längst hat man sich tiefgreifend gewandelt und den Abgebildeten in der Vergangenheit zurückgelassen. Roland Regners künstlerische Arbeit zeichnet aus die Auswirkungen technischer Verfremdung, wie den beschriebenen Distanzierungseffekt der Fotografie, sichtbar und in seiner Materialität verständlich zu machen.

Betrachtet man beispielsweise Regners Serie „Russalka“ kann verdeutlicht werden, wie subtil der Künstler Distanzierungseffekte in seinen Bildern aufscheinen lässt. So kommentiert Regner, dass es sich bei der in der Serie dargestellten Person (ein Kind, bei dem es sich mutmaßlich um Regner selbst handelt) um einen Wassergeist namens Russalka handeln soll. Diese vielleicht etwas seltsame Einordnung kommentiert Regner mit einem als Buchcover angelegten Bild der Serie, in dem Alterungserscheinungen des Bildträgers selbst zum Thema gemacht, in dem Verfallsprozesse des Foto-Materials benutzt werden. Indem er am Rand einer erodierenden Bildfläche seinen eigenen Namen platziert sowie in der Mitte von Alterungserscheinung den Namen Russalka arrangiert, nutzt er die auf diesem Bild zu sehenden, in Wellungen und Ablösungen des Bildträgers entstehenden Verfremdungseffekte für ein Kunstwerk. Der Künstler greift hier also auf völlig gängige Veränderungen von Fotografien, um poetische Material-Welten aufscheinen lassen zu können. Er fokussiert auf sonst eher als Fehler, als technische Probleme angesehene Effekte, um der Bildoberfläche selbst, um dem Medium Fotografie eine eigene Wertigkeit im Erinnerungsprozess zuweisen zu können. Was in der „Russalka“ Bildserie damit aufscheint, ist ein befremdlich schöner, ins „Jenseits“ der Dinge weisender Abstraktionseffekt.




Roland Regner – Russalka

Text by Dr. Heiko Schmid
Art and media scholar, curator and author. Zurich.

Among the profound questions in art is whether photographs show what is absent or whether they transport the present into a pictorial beyond. Anyone who has looked at old childhood pictures is familiar with what this question means. Even though anyone can, of course, confirm that they are the person depicted, it is still a different person who is seen in visual documents. People have long since changed considerably and left the person depicted behind in the past. Roland Regner’s artistic work makes the effects of technical alienation, such as the distancing effect of photography described above, visible and understandable in its materiality.

Looking at Regner’s "Russalka" series, for example, it becomes clear how subtly the artist allows distancing effects to appear in his images. For example, Regner comments that the person depicted in the sries (a child, presumably Regner himself) is supposed to be a water spirit named Russalka. Regner comments on this perhaps somewhat curious classification with an image in the series that is designed as a book cover, in which signs of aging of the image surface itself are made the subject, in which processes of the photographic material’s decay are used. By placing his own name at the edge of an eroding picture surface and placing the name Russalka in the center of the aging area he uses the manipulationeffects that can be seen in this picture, which arise in the undulations and detachments of the picture surface, for an artwork. The artist therefore makes use of wholly customary alterations to photographs in order to allow poetic material worlds to appear. He focuses on effects that are usually regarded as errors, as technical problems, in order to be able to ascribe to the surface of the image itself, to the medium of photography, a value of their own in the process of remembering. What thereby emerges in the "Russalka" series is a strangely beautiful effect of abstraction which points to the "beyond" of things.